12.9.2024 Pressemitteilung: Beratungsstelle gegen sexualisierte Gewalt begeht 40jähriges Bestehen mit einer politischen Kampagne und einer Jubiläumsbroschüre
Die Beratungsstelle gegen sexualisierte Gewalt wird in diesem Jahr 40 Jahre alt. Das Jubiläum wird angesichts der personellen und finanziellen Kapazitäten nicht mit einer großen Feier oder Veranstaltung begangen, sondern mit einer politischen Kampagne. Vom 18. September bis 20. November reflektieren die Mitarbeiterinnen mit wöchentlichen Posts auf Social Media sowie einer speziellen Kampagnenseite auf der Homepage die Entwicklung der Beratungsstelle und die Debatte um Sexualisierte Gewalt. Dabei werden auch Wünsche und Forderungen für die Zukunft formuliert. Die Beratungsstelle hat dazu im Vorfeld Klient*innen, Fachkräfte, Netzwerke und Unterstützer*innen um Rückmeldungen und Beiträge gebeten, aus denen ausgewählte Zitate und zusammengefasste Statements in die Kampagne einfließen. Ausführlich nachzulesen sind die Inhalte zudem in einer Jubiläumsbroschüre, die am 12. September erstmals präsentiert wird.
„Wir blicken zurück auf eine arbeitsintensive, aber auch sehr bereichernde Zeit. Unser Dank gilt vor allem den Betroffenen, die den Mut hatten, sich zu öffnen und sich Unterstützung für unterschiedliche Anliegen zu suchen. Sie waren es, die seit den 80er Jahren die Debatte um sexualisierte Gewalt voran gebracht haben. Erst durch das Engagement der Betroffenen ist es möglich geworden, Hilfestrukturen aufzubauen und das Thema öffentlich und gesellschaftlich zu positionieren. Gleichermaßen bedanken wir uns bei allen, die uns in dieser Zeit unterstützt und finanziell gefördert haben und mit denen wir im fachlichen Austausch und in Netzwerken die Arbeit gegen sexualisierte Gewalt organisieren. Dazu gehören die Stadt Bonn und ihre Institutionen an vorderster Stelle“, resümiert die Geschäftsführerin Conny Schulte.
Vieles habe sich in den 40 Jahren verändert. Das Thema sexualisierte Gewalt sei heute aus der öffentlichen und fachlichen Diskussion nicht mehr wegzudenken. „Die Beratungsstelle hat sich aus einer kleinen Gruppe mit dem Beratungsschwerpunkt Vergewaltigung zu einer etablierten Fachberatungsstelle mit einem umfangreichen Angebot entwickelt. Heute werden für betroffene Erwachsene, Kinder und Jugendliche, Bezugspersonen und Fachkräfte Beratung, Traumaarbeit, Krisenintervention, Prävention, Öffentlichkeitsarbeit, Vernetzung und Opferschutz angeboten“, erklärt die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin Wilma Wirtz-Weinrich. Die Mitarbeiterinnen erläutern, dass durch das Engagement der Fachberatungsstellen und der Frauen- und Kinderschutzorganisationen gesetzliche Reformen, neue Präventionskonzepte, fachliche Standards und institutionelle Handlungskonzepte eingefordert, entwickelt und umgesetzt werden konnten. Als Meilensteine auf rechtlicher Ebene zu nennen: die erstmalige Strafbarkeit von Vergewaltigung in der Ehe mit dem Strafrechtsänderungsgesetz von 1997, zahlreiche Opferschutzreformen, der Rechtsanspruch auf eine kostenlose Beiordnung einer psychosoziale Prozessbegleitung aus dem Jahr 2017, Kinderschutzgesetze auf Bundes- und Landesebene, das Gewaltschutzgesetz von 2001 sowie das Sexualstrafrecht von 2016, in dem der Grundsatz „Nein heißt Nein“ in Deutschland gesetzlich verankert und sexuelle Belästigung zum Straftatbestand wurde. Nicht zuletzt seien in dem ersten staatenübergreifenden und rechtsverbindlichen Dokument in Europa, der sog. Istanbulkonvention, explizite staatliche Verpflichtungen zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und Mädchen in Deutschland seit 2018 festgelegt.
Trotzdem sei noch viel zu tun. Dies wird nicht nur an den Wünschen der Beratungsstelle, sondern auch an den Rückmeldungen der Klient*innen sowie der befragten Fachkräfte und Institutionen zur Kampagne deutlich. Die Klient*innen wünschen sich mehr Sichtbarkeit des Themas, auch in den Medien sowie mehr Aufmerksamkeit für ihre Anliegen. Es müsse mehr Menschen geben, die hinsehen und hinhören würden. Sie fordern mehr Hilfe, mehr und länger von der Kasse finanzierte Therapien und Klinikplätze. Notwendig seien auch weniger bürokratische Hürden und eine Strafverfolgung, die Opfer schützt und Täter*innen zur Verantwortung zieht, sowie Prozesse, die weniger belastend seien. Erforderlich sei zudem eine bessere finanzielle, soziale und rechtliche Unterstützung. Sie plädieren für besser ausgestattete und ausreichend finanzierte Beratungsstellen und eine grundlegende und finanzierte Präventionsarbeit, die auch für bisher wenig berücksichtigte gesellschaftliche Gruppen zur Verfügung stehen sollte.
Die Fachkräfte fordern ebenfalls ein größeres gesellschaftliches Bewusstsein und mehr Sensibilisierung für Betroffene sexualisierter Gewalt, insbesondere für die Situation von Kindern. Das Thema sexualisierte Gewalt müsse endlich enttabuisiert und anerkannt werden. Die Gesellschaft und jede und jeder Einzelne müsse Verantwortung übernehmen und Haltung zeigen, im privaten wie im öffentlichen Raum. Jede*r Betroffene müsse Schutz und Hilfe erhalten, unabhängig vom Einkommen und vom Aufenthaltsstatus. Dazu sei eine flächendeckende und bedarfsgerechte Versorgung mit spezialisierten Fachberatungsstellen und Frauenhäusern erforderlich. Diese bräuchten eine stabile auskömmliche Finanzierung sowie eine deutliche Aufstockung der finanziellen Mittel und personellen Ressourcen.
Ebenso bräuchte es eine flächendeckende Sensibilisierung und Schulung von Multiplikator*innen aus allen Professionen mit ausreichenden zeitlichen und finanziellen Ressourcen. Trainings- und Schutzkonzepten in Unternehmen und öffentlichen Einrichtungen sollten eingerichtet und umgesetzt werden. Außerdem seien passgenaue Bildungs- und Präventionsprogramme notwendig. Die zeitnahe und bedarfsgerechte Umsetzung der Istanbulkonvention sowie die konsequente Strafverfolgung und Gewährleistung des Opferschutzes in der Justiz kennzeichnen weitere Forderungen der Fachkräfte.
Diesen Wünschen und Forderungen schließen sich die Mitarbeiterinnen der Beratungsstelle an. „Wir wünschen uns verbindliche und verlässliche Strukturen: eine einzelfallunabhängige, bedarfsgerechte und kontinuierliche Finanzierung und Absicherung des Schutz- und Hilfesystems, eine effektiv ausgestattete Strafverfolgung, die Umsetzung einer opfer- und kindgerechten Justiz sowie die Umsetzung europäischer und internationaler Konventionen und Abkommen wie der Istanbulkonvention. Dazu gehören auch die Verankerung flächendeckender und kontinuierlicher präventiver Angebote und institutioneller Schutzkonzepte als Standard in Institutionen und Schulen wie auch die Einführung von Fortbildungspflichten für alle Berufsgruppen, die mit Betroffenen sexualisierter Gewalt befasst sind“, erläutert Conny Schulte. „Und wir brauchen eine zeitnahe Umsetzung und finanzielle Ausstattung eines Gewalthilfegesetzes auf Bundesebene. Dazu finden aktuell Veranstaltungen und Proteste der Fraueninfrastruktur in ganz NRW statt, da die Existenz der Frauenhäuser und Beratungsstellen ohne eine solche verbindliche Finanzierung gefährdet ist“. Denn auch nach vierzig Jahren seien die Fachberatungsstellen immer noch eine sogenannte „freiwillige Leistung“ in den Haushalten.
„Eine ausreichende und abgesicherte Finanzierung wäre ein schönes Geburtstagsgeschenk“ bekräftigen die Mitarbeiterinnen der Beratungsstelle. Die Beratungsstelle ist unter 0228/635524 erreichbar. Informationen zur Beratungsstelle und zu den Inhalten der Kampagne und die Broschüre als Pdf finden sich hier: www.beratung-bonn.de
Persönliche Beratungen sind nur mit vorheriger telefonischer Terminvereinbarung möglich.
Telefonische Sprechzeiten und Terminvereinbarung:
Mo 11-12 Uhr
Di-Fr 10-12 Uhr
Mi 18-20 Uhr